Schneverdinger Schüler stellen in einer Lesung die Geschichte eines Flüchtlingsunglücks ergreifend dar
Von Philipp Hoffmann
Schneverdingen. Mitte Januar dieses Jahres: Nach dem Kentern eines Flüchtlingsbootes im Mittelmeer werden 180 Menschen vermisst. Ende März: Nach dem Auffinden zweier gekenterter Schlauchboote vor der libyschen Küste wird der Tod von 250 Flüchtlingen aus Afrika befürchtet. Mitte April: Vor der Küste von Libyen ist ein Schiff mit Flüchtlingen an Bord gesunken. Mindestens 97 Menschen werden vermisst.
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Was aber, wenn aus den Ertrinkenden Menschen werden, Menschen mit Gesichern, mit Namen? Dann geht uns das Ereignis plötzlich sehr nahe, wie am Donnerstagabend an der KGS Schneverdingen nachzuempfinden war. Da trugen Gymnasiasten der 10. Klassen den Text „Ein Morgen vor Lampedusa“ vor – und riefen beim Publikum Reaktionen von Gänsehaut bis hin zu Tränen hervor.
Der italienische Autor Antonio Ricco hat in der Lesung das Schiffsunglück vom 3. Oktober 2013 vor der italienischen Insel Lampedusa auf Grundlage von Augenzeugenberichten aufgearbeitet. 368 Menschen kamen dabei ums Leben – eine erschreckend hohe Zahl. Doch es sind viel mehr noch die Einzelschicksale, die unter die Haut gehen.
Bis zu 5000 Dollar haben die Flüchtlinge, die meisten aus Eritrea, für die Überfahrt von Libyen nach Italien auf einem alten Kutter bezahlt. Mit 545 Menschen an Bord ist der völlig überfüllt. Dennoch scheint alles gutzugehen. Eine halbe Seemeile vor der Insel Lampedusa, die zwischen Tunesien und Sizilien liegt, fällt mitten in der Nacht plötzlich der Motor aus. Die Leute versuchen, Fischerboote auf sich aufmerksam zu machen. Jemand zündet eine Decke an. Das Unglück nimmt seinen Lauf.
Der Kutter gerät in Brand, die Menschenmenge in Panik. Sie flüchtet sich auf eine Seite des Schiffes – und bringt es zum Kentern. Als Fischer hinzukommen, ist das Meer voller Köpfe.
Dann geschieht Unfassbares. Die Fischer, die Menschen aus dem Wasser gezogen haben, dürfen sie nicht im Hafen übergeben. Die Kommandantur gibt an, sie müsse erst weitere Weisungen abwarten. Einige Fischer helfen auch gar nicht erst: Sie haben Angst, wie einige ihrer Kollegen vor Gericht gestellt zu werden, weil sie illegal einreisenden Menschen zu Hilfe gekommen sind. „Das Gesetz fordert von den Fischern, sich unmenschlich zu verhalten“, kommentiert der Autor.
Doch es ist nicht nur das Gesetz, das den Leuten nach dem Unglück zu scha en macht. Es sind auch ihre Erinnerungen. Ein Kapitän blickt einer Frau ins Auge, die völlig entkräftet im Meer schwimmt. Ihr Arm gleitet von seinem ab, er sieht sie stumm im Meer versinken, während sie ihn anstarrt. „Wir werden es nie vergessen können“, sagt er. Ein anderer weiß nicht, wem er zuerst helfen soll, dem Mann vor ihm im Wasser oder der Frau auf der anderen Seite, die um Hilfe ruft. Er birgt den Mann und eilt dann zu der Frau. Sie ist verschwunden.
Die Schüler aus dem Kurs Darstellendes Spiel waren von dem Text, den sie lasen, nicht minder ergriffen als das Publikum. Micha Kreie fand es spannend, sich in die Rolle der Betroffenen hineinzuversetzen. Alexander Oelerich sagt, er habe vorher nicht gewusst, wie so eine Flucht abläuft. Und auch für Martin Uhlmann hat es die Lesung „viel intensiver gemacht“, von Flüchtlingsschicksalen zu hören.
Die Teilnehmer einer Gesprächsrunde im Anschluss an die Lesung waren sich dann einig, dass es an Lösungen für Fluchtursachen fehlt. Zustimmung fand Schülersprecher und Moderator Marc-Antonio Göttsche darin, dass Deutschland zu den Fluchtverursachern gehört – etwa durch Ausfuhren von billigen Nah- rungsmitteln nach Afrika: Sie verderben den dortigen Bauern die Preise und zementieren damit ihre Armut ein.
Quelle: Böhme-Zeitung vom 6. Mai 2017